Die fehlende Generation

Angkor Wat bei Siem Reap

In Kambodscha schlittert man unweigerlich in die Midlife-Crisis. Natürlich nur dann, wenn man wie ich – danke Karin für den Hinweis auf den Tippfehler im letzten Beitrag! – bereits mehr als 40 Lenze am geschundenen Buckel mit sich trägt. Man begegnet hier nämlich beinahe nur von jugendlicher Schönheit strotzenden Menschen. Das landesweite Durchschnittsalter in Kambodscha beträgt zarte 25 Jahre. Zurückzuführen ist dies auf die jüngere Vergangenheit des Landes.

Es war Nachmittag an jenem 17. April des Jahres 1975, als Loung Ung*, ein damals 5-jähriges Mädchen, das Spielen in den Straßen  Phnom Penhs, der Hauptstadt Kambodschas, schlagartig unterbrach. Alle anderen Menschen hielten ebenfalls inne, um die matschbespritzten alten Lastwagen in die Stadt einfahren zu sehen. Alle jubelten den in schwarz gekleideten Männern mit den roten Tüchern um die Taillen auf den vorbeiziehenden Fahrzeugen zu, im Glauben, der Bürgerkrieg, welcher seit ein paar Jahren tobte, sei zu Ende. Wenige Stunden später flüchtete die Familie Ung, und mit ihnen die gesamte Bevölkerung Phnom Penhs – immerhin ca. 2 Mio. -, aus der Stadt. Die Soldaten der Roten Khmer forderten sie mit Nachdruck dazu auf. Unter dem Vorwand, die USA, welche zu der Zeit in und um Vietnam Krieg führten, würden in Kürze Phnom Penh bombardieren, was ebenso gelogen war wie die Aussicht, in drei Tagen zurückkehren zu können.

„Am Weg stehen überall Soldaten, die uns vorantreiben. Mit Gewehren und Megaphonen geben sie uns Anweisungen. In der sengenden Aprilhitze werden viele alte Leute krank, sie leiden unter Hitzschlag oder Dehydrierung, aber sie wagen es nicht, sich auszuruhen. Wenn jemand nicht mehr weiter kann, werfen die Angehörigen seine Sachen weg, und der Kranke wird auf dem Rücken getragen oder auf einen Karren gelegt, wenn die Familie zu den Glücklichen gehört, die noch einen haben. Wir laufen den ganzen Morgen und den ganzen Nachmittag. Wir machen erst Rast, als die Sonne sinkt.“ (Loung Ung, Der weite Weg der Hoffnung, S. 59.)

Vor ihnen lag ein langer Marsch mit noch ungewissem Ziel. Viele, vor allem Alte und Kranke, überlebten ihn nicht. Noch mehr starben in den darauffolgenden Jahren bis 1979 in den Zwangsarbeitslagern, wohin die Bevölkerung tatsächlich getrieben wurde. Die Rote Khmer versuchten dadurch, ihre utopische Idee eines gänzlich autarken Agrarstaates mit aller Gewalt umzusetzen. Die Bevölkerung Kambodschas sollte sich ohne jedwede Hilfeleistungen und Importe dritter Staaten ernähren können. Dazu bedurfte es einer immensen Anzahl an Feldarbeitern. Soziale Strukturen wurden zerstört, Krankenhäuser wurden aufgelassen, Schulen geschlossen, Fabriken zerstört, der Geldwert abgeschafft, Menschen enteignet. Es gab weder Post noch Telefon, selbst die Ausübung religiösen Glaubens wurde verboten. Offiziell sollten alle Menschen gleich sein und Gleiches zur Verfügung haben, ohne böse, materielle Versuchungen der westlichen Welt. In Wahrheit aber wurde die Bevölkerung eingeteilt in ein Klassensystem:

Menschen erster Klasse (Angehörige der Roten Khmer): Sie waren Augen und Ohren des Angkar, wie die neue Führung des Landes sich bezeichnete, und entschieden über sämtliche Belange des täglichen Lebens, Lebensmittelzuteilungen, Härte der Strafen, nicht zuletzt über Leben und Tod der zur Zwangsarbeit rekrutierten Stadtbevölkerung. Sie waren Exekutive gleichermaßen wie Judikative, handelten stets im Auftrag und Sinne Pol Pots, wie sich Saloth Sar, der Anführer der Roten Khmer, nannte.

Basisleute: Hatten keine uneingeschränkte Macht, arbeiteten aber eng mit den Menschen erster Klasse zusammen. Meist waren sie bereits vor der Machtergreifung der Roten Khmer Landwirte und galten dem Angkar als Helden. Sie durften ihre eigenen Häuser bewohnen und mussten nicht mit den spärlichen Essensrationen der dritten Klasse auskommen. Sie wurden auch nicht von den Roten Khmer bespitzelt, sondern unterstützten diese bei der Observierung der unter Generalverdacht stehenden dritten Klasse.

Die „neuen Leute“ oder auch „Menschen des 17. Aprils“ hatten in den Städten gelebt und wurden gewaltsam in die Arbeitslager gebracht. Sie galten als korrupt, dem Angkar gegenüber illoyal und wurden stets beobachtet. Sie mussten aus Sicht der Roten Khmer erst lernen, produktive Arbeit zu verrichten. Wer früher als Lehrer, Beamter, im Gesundheitswesen oder als Künstler gearbeitet hatte, wurde als moralisch verdorben angesehen. Es reichte bereits aus, Brillenträger gewesen zu sein oder Fremdsprachenkenntnisse zu haben, um als Parasit betrachtet zu werden. Diese Personengruppe galt selbst unter den neuen Leuten noch als letztklassig.

„Papa, werden sie uns töten?“, fragte Loung Ung ihren Vater im Arbeitslager. „Ich habe gehört, wie die anderen neuen Leute sich auf dem Dorfplatz zugeflüstert haben, dass die Soldaten der Roten Khmer nicht nur Leute töten, die für die Regierung Lon Nols gearbeitet haben, sondern auch jeden, der eine Ausbildung hat. Wir haben eine Ausbildung, werden sie uns auch umbringen? Mein Herz rast, als ich diese Frage stelle. Papa nickt finster. Darum hat er uns gesagt, dass wir uns dumm stellen und niemals über unser Leben in der Stadt sprechen sollen.“ (Loung Ung, Der weite Weg der Hoffnung, S. 115.)

Die neuen Leute mussten am längsten und am härtesten arbeiten. 14-Stunden-Arbeitstage am Feld waren keine Seltenheit, freie Tage gab es nicht. Die Essensrationen waren anfangs spärlich und wurden im Laufe der Zeit – trotz all der geleisteten Arbeitsstunden am Acker – stets weiter gekürzt, da ein nicht unbeträchtlicher Teil der Ernte im Gegenzug für Waffen nach China exportiert wurde. Wer nicht an Unterernährung oder Krankheit starb, musste ständig fürchten, von den Menschen erster Klasse als Lügner, Verräter oder Dieb eingestuft zu werden. Dann kam man ins Gefängnis, wo man unter Folter gezwungen wurde, falsche Geständnisse zu unterschreiben, bevor man erschlagen und in Massengräbern – heute bekannt unter dem Namen Killing Fields – verscharrt wurde.

Insgesamt fielen dem Regime Pol Pots schätzungsweise zwei Millionen Menschen zum Opfer, was beinahe 1/3 der Gesamtbevölkerung Kambodschas entsprach. Erst 1978 begann der Angkar nach und nach zu zerfallen. Misswirtschaft und völlig unrealistische Erntevorgaben führten dazu.
Nach von den Roten Khmer provozierten Grenzzwischenfällen marschierte Ende 1978 das nun wiedervereinigte Vietnam unter Protesten der westlichen Welt in Kambodscha ein, stürzte das Pol Pot-Regime und installierte eine pro-vietnamesische Regierung. Pol Pot selbst tauchte nahe der thailändischen Grenze unter. In den folgenden Jahren führten die anhaltende Lebensmittelknappheit sowie die Guerillataktik der Roten Khmer zur Massenflucht der Bevölkerung nach Thailand. Pol Pot gründete 1982 gemeinsam mit nicht kommunistischen Parteien von Kuala Lumpur aus eine Exilregierung. Diese wurde von vielen westlichen Staaten, darunter die USA, Deutschland, Frankreich und Großbritannien, anerkannt und mit finanziellen Mitteln ausgestattet.

Die ersten freien Wahlen wurden erst 1993 unter Aufsicht der UN abgehalten. Die Rote Khmer boykottierten die Wahlen und agierten weiter aus dem Untergrund. Tausende Zivilisten wurden bis 1995 von ihnen in Konzentrationslager im unwegsamen Dschungel verschleppt. Erst nach und nach zersplitterte die Rote Khmer. Pol Pot wurde 1997 von einem seiner früheren Gefolgsleute abgelöst und unter lebenslangen Arrest gestellt, wo er 1998 verstarb. Im selben Jahr stellten sich hochrangige Rote Khmer, und die letzten bewaffneten Gruppierungen kapitulierten. Viele der Kämpfer wurden nach einer Übereinkunft mit der Regierung in die Staatsarmee übernommen.

Und Kambodscha heute? Die Menschen begegnen einem ausgesprochen freundlich, Kinder in ländlichen Gebieten winken Hellhäutigen schon von weitem zu. Lebensfreude hat offensichtlich nichts mit Wohlstand zu tun. Schließlich beläuft sich das monatliche Durchschnittseinkommen nur auf etwas mehr als 100 USD. Mehr als ein Viertel der Bevölkerung ist noch in der Landwirtschaft tätig, den größten Wirtschaftssektor bildet aber das Dienstleistungsgewerbe. Fabriken und zerstörte Gebäude wurden wieder aufgebaut, ebenso viele der von den Roten Khmer zerstörten Tempel. Die vorherrschende Religion ist der Buddhismus.

Leider begegnet man hier überdurchschnittlich vielen Menschen mit körperlicher Behinderung. Kambodscha gilt noch immer als eines der am stärksten verminten Länder. Schätzungen zufolge wurden einige Millionen Landminen noch nicht entschärft.

Jeder hier hat wohl seine eigene Art, um mit der Vergangenheit, mit dem schier Unvorstellbaren, Frieden zu schließen. Durch Musik, Theater, Malerei, Religion, Sport oder einfach durch Gespräche mit anderen. Was in Kambodscha passiert ist, passierte auch schon anderswo auf der Welt. Wo die Würde der Menschen oder auch nur einer Gruppe von Menschen nicht mehr respektiert wird, findet sich ein Nährboden für eben das.

* Vgl. Loung Ung: „Der weite Weg der Hoffnung“, 2002, Fischer Taschenbuch Verlag.

 

Phnom Penh nach der Räumung.
Folterzelle im damaligen Tuol Sleng Gefängnis, einer zweckentfremdeten ehemaligen Schule in Phnom Penh. Während des Khmer-Regimes war Tuol Sleng bekannt unter dem Codenamen S-21. Zwischen 1975-1979 waren hier 14.000-20.000 Menschen inhaftiert. Wer nicht durch Folter starb, wurde außerhalb der Stadt erschlagen, Munition wurde gespart. Die Toten verscharrte die Rote Khmer in Massengräbern, den sogenannten Killing Fields. Nur sieben aller jemals dort Inhaftierten überlebten den Aufenthalt in S-21.
Choeung Ek, das bekannteste von etwa 300 Killing Fields in Kambodscha, liegt ein paar Kilometer außerhalb der Hauptstadt Phnom Penh. Hier wurden schätzungsweise 17.000-20.000 Menschen erschlagen und vergraben. Die meisten davon waren frühere Insassen des berüchtigten Tuol Sleng Gefängnisses.
Der Slogan einer Antikriegskampagne von John Lennon und Yoko Ono während des Vietnamkriegs. Bei uns ist das Lied, in welchem sich die Zeile wieder findet, als Weihnachtssong bekannt.
Die USA haben während ihres Krieges in Vietnam auch Kambodscha bombardiert, dies außerhalb der Wahrnehmung der Öffentlichkeit. Mit mehr als 500 Tonnen Bomben warfen sie mehr als doppelt so viel über Kambodscha ab, wie während des gesamten 2. Weltkrieges über Japan. Tod und Elend, erzwungene Flucht und daraus resultierend Hass und Wut unter der Bevölkerung begünstigte den Aufschwung der Roten Khmer nicht unwesentlich. Ungeachtet dessen verlangen die USA heute Rückzahlung der Kriegsschuld von Kambodscha für geleistete Hilfszahlungen während des dortigen Bürgerkrieges.
Baum macht sich an Gemäuer des Ta Prohm Tempels heran.
Pub Street in Siem Reap
„Flying“ Snackverkäuferin an der Bushaltestelle. Maden, Grillen, Heuschrecken… Alles dabei, was das Herz begehrt.
Kfz-Werkstatt. Die meisten Fahrzeuge hier sind älteren Semesters, somit ist vergleichsweise wenig Elektronik verbaut. Instandhaltung bzw. -setzung stellt selten ein größeres Problem dar.
Gemüse- und Obststände wie hier in Battambang sehen, ganz im Gegensatz zu jenen mit Fisch und Fleisch, sehr appetitlich aus.
Lieber Besuch aus der Heimat. Hier beim gemeinsamen Besuch Angkor Wats
Kambodschanische Konditorei in Battambang
Wohnhaus in einem schwimmenden Dorf an der Mündung eines Flusses in den Tonle Sap, dem größten See Südostasiens.
Boccia – Sonntäglicher Zeitvertreib der Herren.
Alltägliche Problemchen bei der Bedürfnisverrichtung: Links oder rechts?

6 Antworten auf „Die fehlende Generation“

  1. ein für mich unvorstellbarer Bericht den du da dokumentierst Erlebnis der Sonderklasse !! lies das sehr aufmerksam und freue mich, dass es dir gut geht !!
    liebe Grüsse aus Mooskirchen deiner Heimat !!!!!!!!!!!!!!!!!!!

    1. Lieber Alois, ja, Kambodscha hat eine sehr bewegende Vergangenheit hinter sich, ich denke aber, das Land ist auf einem guten Weg. Interessant sind auch die Parallelen zu Österreich/Deutschland in den 30er und 40er Jahren. Wobei der Autogenozid in Kambodscha an der eigenen Bevölkerung natürlich eine andere Opfergruppe im Visier hatte.
      Ich hoffe, Du bist auch wohlauf!? Liebe Grüße ins schöne Mooskirchen!

  2. Halli Hallo mein lieber muss mich dem Kommentar von Herrn Alois Hiebler anhängen……du beschreibst das wunderbar ! Ich hoffe es geht dir gut??Liebe Grüße aus Lannach

    1. Huhu! Ja, mir geht’s gut. Hab ein paar Tage „Urlaub vom reisen“ gemacht und es mir auf einer Insel in Thailand gut gehen lassen. Mehr in Bälde!
      Lieben Gruß!

  3. Hey! Na, da staune ich nicht schlecht! Deine Berichte sind super zu lesen.
    Wie gehts da?? I beneid di grad ums warme Wetter!!! Lg aus Feldbach

    1. Hey, Babsi! Schön, dass Du mitreist! Ja, noch ist der Winter in vollem Gange bei Euch, hm? Aber nicht mehr lange, der Märzen naht! Dann geht es aufwärts mit den Graden.
      Mir geht’s sehr gut. Ich leide maximal etwas unter der extremen Luftfeuchtigkeit und den Mücken hier auf Bali. Ist grad Regenzeit…
      Trotzdem sonnige Grüße nach Feldbach!

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